Freyas Geburt

Es ist Freitag, der 23. Oktober 2009 und wir sind gerade von einer riesigen Einkaufstour zurückgekommen. Der Plan sieht für heute Abend eine Pizza vor und so freue ich mich schon riesig darauf, während ich mit Emma, unserer zu diesem Zeitpunkt 21 Monate alten Tochter, die zahlreichen Tüten auspacke. Als wir fertig sind, wird mir plötzlich unglaublich schlecht, ich bekomme Magenschmerzen und muss mich hinsetzen. Mein Mann Uwe verfrachtet mich in die Stube, wo ich mich auf die Couch lege, so ein bisschen vor mich hinstöhne und mich ärgere, dass ich ausgerechnet jetzt, so kurz vor der Entbindung krank werde. Tolle Wurst. Uwe schnappt sich derweil Emma und geht mit ihr in die Küche, Pizza machen.

Die Übelkeit legt sich nicht. Ich sehe es kommen, dass aus meiner schönen Hawaii heut nichts mehr wird. Dafür ist der Gedanke an einen Eimer langsam umso verlockender. Als Uwe mit Emma aus der Küche kommt und ich mich aufsetze, um ihn darum zu bitten, läuft mir irgendwas „aus“. Ob das nun die Harnblase war, weil das Gnömchen herzhaft zugetreten hat (kennen wir doch schon irgendwoher… fing das nicht bei Emma auch so an?) oder die Fruchtblase, weiß ich nicht. Wir rufen Meike, unsere Hebamme an, um sie vorzuwarnen, dass es dann jetzt vielleicht bald losgehen würde und vor lauter Aufregung vergesse ich fast meine Bauchschmerzen.
Die Pizza schmeckt übrigens trotzdem hervorragend, wenn ich auch nicht ganz so viel davon schaffe.

Wir bringen also wie gewohnt gegen 20 Uhr Emma ins Bett und einigen auch uns, es heute nicht allzu spät werden zu lassen. Es könnte ja sein…

Es passiert nichts weiter. Gegen halb elf machen wir uns trotzdem lang. Ich bin aufgeregt, weil Meike morgen Vormittag kommen will und sich dann herausstellen wird, ob es nun Fruchtwasser war, was da auslief. Vor lauter Aufregung kann ich kaum schlafen und werde nachts immer wieder wach.
Vor lauter Aufregung bemerke ich auch erst gegen Morgen, dass der eigentliche Grund für das ständige nächtliche Aufwachen nicht die Aufregung oder meine unbequeme Lage ist, sondern tatsächlich Wehen. Ich wälze mich ein bisschen hin und her und es ist gegen halb sieben, als schließlich der Liebste aufsteht, weil er nicht mehr liegen kann. Bald darauf wird auch Emma wach, Uwe holt sie und die beiden machen Frühstück. Ich freue mich trotz der unangenehmen Unterbrechungen, noch ein bisschen dösen zu können. Ich habe glänzende Laune, irgendetwas sagt mir, dass es nun losgehen wird.

Am Frühstückstisch, es ist gegen acht Uhr, etwa, beginne ich, meine Wehen, die zwischenzeitlich ziemlich genau alle 6min kommen, zu veratmen. Dabei gucken mich der Krümel und der Liebste jeweils furchtbar interessiert an, während der Papa der Tochter erklärt, was Mama da tut. Irgendwie irritiert mich das und so wird regelmäßig aus einer Wehe ein Lachen. Nicht leicht, so den Bauch zu entspannen.
Ich weiß jetzt, dass es heute losgehen wird, freue mich ordentlich und mache große Pläne, dass ich vorher „nur noch schnell die Wäsche aufhängen, neue waschen und vielleicht noch den letzten Korb zusammenlegen will“. Uwe sieht mich an, als wäre ich nicht mehr ganz bei Trost, lächelt ein bisschen und schiebt mich auf die Couch. Entspannen soll ich mich, ich hätte heut noch genug Arbeit vor mir.
Ich lache, aber füge mich, rufe zur Vorbereitung noch unsere Tagesmutter an, die Emma nehmen wird und bereite noch schnell den letzten Blogeintrag vor, während der beste Mann der Welt wie ein Verrückter beginnt, die Küche zu wischen, den Abwasch zu erledigen, die Wohnung zu saugen… und was ihm sonst noch so alles einfällt.
Zwischendurch ruft Meike an und fragt, wie es mir geht, ob es ok wäre, wenn sie etwas später zu uns käme und ihre Termine etwas vertauscht – nur, falls sie länger bleiben würde. Ich halte das für eine gute Idee.

Gegen halb elf entscheide ich, dass es mir zu anstrengend wird, Emma noch – wie eigentlich beabsichtigt – bis nach dem Mittagessen daheim zu behalten. Ich kann mich nicht auf meine Wehen konzentrieren, wenn ich auf sie aufpasse und ich kann mich nicht auf sie konzentrieren, wenn ich wehe. Und die Wehen werden langsam wirklich Arbeit.
Ich frage Uwe, ob es ok wäre, wenn wir das schon vorziehen und Emma doch schon rüberbringen, er sieht mich an und greift zum Hörer um unsere Tagesmutter anzurufen. Nun schein er ein bisschen nervös…
Ein letztes Mal mache ich Emma fertig, packe noch die letzten Dinge wie ihren Kuschelbären und zwei besonders heißgeliebte Bücher in ihre Tasche, suche zur Feier des Tages Milchschnitte und Erdbeerquark zu den Kiwis zusammen, gebe ihr einen Abschiedskuss und lasse die beiden ziehen.
Ich fühle mich furchtbar mies, wie ich da stehe und den Krümel abgebe, vielleicht sogar über Nacht. Noch nie habe ich ihn länger als ein paar Stunden jemand anderem überlassen und noch nie hat er eine Nacht ohne mich, uns verbracht. Aber ich tröste mich mit dem Gedanken an unsere wirklich liebe Tagesmutter und da rollt auch schon die nächste Wehenwelle heran.

Als Uwe wiederkommt, habe ich mich bereits auf alle viere begeben und danke Gott für die Erfindung des Pezzi-Balls. Die Übungswehen, die mich seit drei oder vier Monaten begleiten, waren nichts gegen diese hier. Trotzdem bin ich irritiert. Diese hier dauern einfach nicht lang genug und außerdem scheint mir einfach nicht genug Druck dahinter. Sie tun schlicht weh und das kommt mir widersinnig, ineffektiv vor. Ob das wohl wieder so eine zähe Geburt wird wie die erste?
Ich kann noch gut veratmen, aber immer, wenn ich mich aus dem Vierfüßler in aufrechte Position begebe oder gar hinstelle, komme ich aus dem Wehen gar nicht mehr heraus. Ich bleibe also einfach unten.

Und da bin ich auch gegen halb zwölf oder zwölf noch, als Meike kommt. Uwe hat zwischenzeitlich damit begonnen, das Wohnzimmer mit Malerplane auszukleiden und den Pool aufzufüllen. Die Stube sieht aus wie eine Baustelle und wir scherzen noch, weil ich darauf bestehe, über die Plane auf der Couch wenigstens eine Decke zu legen und die ganzen Kissen wieder hinzustellen. Wenn ich in einem fremden, sterilen Umfeld hätte gebären wollen, dann hätte ich schließlich auch ins Krankenhaus gehen können. Meike und Uwe richten alles so, wie ich es gern hätte. Ich fühle mich zwar wie ein furchtbarer Pascher, aber ich bin froh, dass ich von meinem komfortablen Platz auf Emmas Spielmatten nicht aufstehen muss.
Schließlich steht die Untersuchung an, Meike will einmal kurz nach dem Baby hören und den Muttermund tasten. Das Baby liegt, wie sich herausstellt, fürchterlich ungünstig, noch ungünstiger als ein paar Tage zuvor. Ich komme um einen Einlauf nicht herum.
Zudem stellt sich heraus, dass der Muttermund sich gerade einmal auf ein oder zwei Zentimeter geöffnet hat. Ich kann nicht beschreiben, wie sehr mich das deprimiert und an Emmas Geburt erinnert.

Gegen Mittag kommen wir überein, dass Meike einfach ruhig noch mal heimfahren soll und wir sie rufen, wenn sich hier „etwas tut“. Ich bin froh, dass das so unkompliziert machbar ist, denn ich kann mir kaum zäheres vorstellen, als kniend auf dem Wohnzimmerboden Geburtsarbeit abzuleisten, während mir zwei wartende Menschen gegenüber auf dem Sofa sitzen. Sie rät mir noch, einfach doch schon mal den Pool auszuprobieren, dann lohnt sich das wenigstens. Sie sagt, ich soll mir keine Gedanken machen und bloß nicht künstlich irgendetwas forcieren. Vom Herumgerenne kämen höchstens Stresswehen, aber nicht die, die wir brauchen. Das wird schon alles. Wir verabschieden uns lachend und ich werde schnell wieder guter Dinge – die Geburt mag wieder zäh sein, aber sie ist bereits im Rollen, ich bin daheim und das wird schon irgendwie.
Ich freue mich vor allem, dass mir erstmals eben nicht „befohlen“ wird, stundenlang herumzulaufen, sondern ich einfach tun soll, was mir gerade gut tut.
Auch Uwe sieht das so. Er sei „heute mein persönlicher Haussklave“, sagt er, grinst, und wartet auf Anweisungen.
Das wird schon, denke ich mir, aber wahrscheinlich auch erst spät nachts oder gegen Morgen. Ich bin ziemlich optimistisch – aber ich habe ein umso schlechteres Gewissen, weil festzustehen scheint, dass Emma nun wirklich auch außer Haus schlafen muss.

Ich entscheide mich, einfach mal den Pool auszuprobieren – und fühle mich wie im 7. Himmel. Das Wasser hat genau die richtige Temperatur, ich bin unglaublich schwerelos und es ist einfach… perfekt. Im Leben hätte ich das nicht gedacht. Uwe lacht über mein wohliges Seufzen ein bisschen erleichtert in seinen Bart.
Die Wehen werden nicht leichter, aber seltener. Das ist vielleicht nicht so wirklich gut, denke ich mir, entscheide aber, erstmal eine halbe Stunde abzuwarten. Das Wasser tut einfach zu gut, um es gleich wieder zu verlassen. Derweil macht Uwe uns die Reste unserer Vorabendpizza warm und in trauter Eintracht bieten wir wahrscheinlich ein seltsames Bild, Pizza essend, er auf dem Sofa und ich in einem Pool im Wohnzimmer, zwischendurch immer wieder Wehen wegpustend.
Ich überlege, wie gut mir das alles tut, wie groß der Unterschied zur ersten Geburt ist. Da war ich so furchtbar genervt von allem und jedem, deprimiert und schlecht gelaunt. Jetzt freue ich mich, mit meinem Mann erzählen zu können und eben einfach abzuwarten, was heute noch so passiert.

Sie mögen seltener werden, aber sie werden definitiv heftiger, die Wehen. Das kann ich jetzt feststellen. Intensiver. Ich halte das für einen Fortschritt und entscheide nach der halben Stunde, einfach im Wasser zu bleiben.
Ich bitte Uwe, noch mal warmes Wasser dazulaufen zu lassen und schicke ihn dann ins Schlafzimmer. Im Wohnzimmer haben wir das Rollo heruntergelassen und nur die kleinen Lampen an. Hier ist es schummrig, zu schummrig zum Lesen und es bringt schließlich auch nichts, wenn er mir nun gegenüber auf dem Sofa sitzt und sich langweilt. Einzig PC und Fernsehen will ich jetzt nicht laufen haben. Uwe ist ein bisschen unsicher und fragt mehrmals nach, ob das denn auch wirklich in Ordnung sei. Ich merke an, dass es mir sogar lieber wäre, weil ich mich dann besser konzentrieren kann. In dem Moment stelle ich fest, dass das gar keine Lüge war, dass ich jetzt eben wirklich gern ein bisschen für mich allein wäre, mich von meinem Bauch zu verabschieden, Wehen zu verblasen und ein bisschen zu realisieren, was da gerade passiert.
Mein wunderbarer Mann wirft mir noch einen letzten Blick zu und verschwindet im Schlafzimmer. Nicht, ohne mir vorher zu versichern, dass er da sei und ich nur zu rufen bräuchte.

Da liege ich nun also, in meinem Pool, und wehe vor mich hin. Die Wehen ziehen mittlerweile außerordentlich eklig in Oberschenkel und Rücken. Ich versuche, mir vorzustellen, in einer Bucht am Strand, knietief im Wasser zu stehen, während in regelmäßigen Abständen Wellen über mich hereinrollen. Meine Aufgabe ist nicht, davonzurennen, sondern nur, tief Luft zu holen und abzuwarten, bis wieder eine vorübergewälzt ist. Irgendwann wird es meine Aufgabe, mir unter dem Brecher nicht.alle Knochen zu brechen, sondern tapfer an Ort und Stelle zu bleiben. Ich stelle mir vor, wie jede Wehe mein Kind ein Stückchen weiter herunterdrückt und langsam beginne ich, jeweils ein winziges bisschen mitzudrücken.
Noch so etwas, das ganz anders war als bei Emma. Damals versuchte ich einfach nur, locker zu bleiben. Dieses Mal versuchte ich, zu arbeiten.

Die Wehen werden fies. Es gibt jeweils immer nur eine einzige Haltung, um sie zu vertönen (nein, ich veratme oder verpuste oder verblase nicht mehr, ich vertöne. Tief aus dem Bauch heraus, wenn ich auch manchmal aus dem Takt komme. ) und wenn ich die nicht rechtzeitig erwische, bevor eine Welle dicht genug herangerollt ist, um mich mit sich zu reißen, fühle ich mich furchtbar verzweifelt. Das ganze tut verdammt weh und ich weiß nicht genau, wie lange ich das noch durchhalten kann. Die Wellen kommen jedoch noch immer nur einmal „pro Lied“ (ich habe mir vorher iTunes angeschaltet und meine Lieblingslieder-Wiedergabeliste aufgerufen) und das scheint mir verdammt wenig, trotz der Intensität.
Ich versuche, selbst den Muttermund zu tasten. Das gelingt mir nicht, mir fehlt einfach die Erfahrung. Aber ich kann hinter der Haut ganz genau das kleine Köpfchen darin fühlen und das überwältigt mich. Ich kann fühlen, in welche Richtung es gedreht ist und wie winzig es ist. Das gibt mir neue Kraft.

Zwischendurch kommt Uwe nach mir sehen und ich erzähle ihm von dem Köpfchen. Das mag er nicht tasten, weil er da nicht „herumgrabbeln“ will, aber er legt mir die Hände auf den Bauch. Das tut gut.
Mittlerweile ist das Wasser wieder ziemlich abgekühlt und wir müssen etwas ablassen um neues, wärmeres dazuzugeben. Die Vorstellung, für die Zeit des Abpumpens den Pool und „meine Bucht“ zu verlassen und möglicherweise von mehreren Wehenwellen auf dem Trockenen erwischt zu werden, macht mich plötzlich panisch. Das kann ich nicht, will ich nicht, traue ich mir nicht mehr zu.
Der beste Mann der Welt holt einen großen Eimer, eine Kanne, und schöpft per Hand, bevor er neues Wasser dazugibt. Dann setzt er sich noch kurz auf das Sofa, bevor ich ihn wieder in die Schlafstube schicke, noch ein Nickerchen zu halten. Dass ihm letzteres ein schlechtes Gewissen macht, merkt man ihm richtig an, aber ich kann ihn beruhigen, es ist ja –wirklich- völlig in Ordnung für mich. Ich muss das hier allein leisten und ihn sicher und bereit in meinem Rücken zu wissen ist alles, was ich brauche.

Uwe geht und ich konzentriere mich wieder auf meine Musik, meine Wehen – und meine Bucht mit den Wellen, die ich aushalten muss. Es ist kurz vor 15 Uhr. Die Wehenabstände werden nicht kürzer, aber die Wellen hauen mich ordentlich um. Zudem sind es nun plötzlich seit dem warmen Wasser immer gleich _zwei_ nicht enden wollende Wellen hintereinander, bevor wieder eine Pause folgt.
Nur fünfzehn Minuten später ist noch etwas neu. Ich kann meinen Wellen nichts mehr entgegensetzen. Ich verliere in meiner Bucht den Halt und werde völlig ziellos herumgewirbelt. Vertönen hilft nicht, die Haltegriffe reichen nicht, alles geht zu schnell und mich überkommt Wehe für Wehe immer stärker dieses Gefühl von Verzweiflung, das ich noch von Emmas Geburt her kenne – von dem Moment an, als dort die PDA aussetzte und die Übergangswehen begannen. Diese Hilflosigkeit ist mir nicht mehr geheuer, ich kann nicht mehr, die Wellen werden zu groß und zu stark. Mein Kreislauf, dieses Aas, beginnt, mich zu hintergehen, mein ganzes Gesicht, mein ganzer Körper kribbeln. In diesem Moment weiß ich, dass ich begonnen haben muss, zu hyperventilieren.
Und ich weiß auch noch ganz genau, in welcher Phase von Emmas Geburt ich begonnen habe, zu hyperventilieren. Das bedeutet, dass ich zu lange gewartet habe. Wir müssen unbedingt Meike holen!

Dieser Gedanke war genau der falsche. Ich komme kaum noch dazu, Uwe zu rufen, denn jetzt geht alles Schlag auf Schlag. Es gibt keine Pausen mehr zwischen den Wehen und ich habe keine Kraft zu rufen oder zu sprechen oder sonst was zu tun. Ich kann mich nur noch und einzig auf das Atmen konzentrieren. Jetzt ist nicht mehr der Raum für große Gedanken, es ist zu spät zum Denken und ich konzentriere mich einfach – wie dramatisch es auch klingt, in dem Moment ist das schlicht das vorherrschende Gefühl – auf das Überleben.

Irgendwann, ziemlich schnell darauf, kommt Uwe ins Wohnzimmer. Ich weiß nicht mehr genau, ob ich es geschafft habe, ihn zu rufen, oder ob er die Veränderung bemerkt hat. Aber er kommt und ich schaffe noch ein „Meike – anrufen – zu schnell – kribbelt“ oder so ähnlich, bevor ich wieder abtauche. Das Abtauchen ist fast wörtlich gemeint, denn ich hänge im Vierfüßler mit dem Kopf mittlerweile so dicht über der Wasseroberfläche, dass meine linke Wange auf dem Wasser ruht.
Die Wellen haben mich völlig im Griff, vom Telefonat mit Meike bekomme ich kaum etwas mit, einzig, dass sie sich sofort auf den Weg macht.

Uwe kommt und hält meine Hand, ich breche ihm fast den kleinen Finger. „Pause“ wimmere ich noch und sonst nichts mehr. „Bitte Pause“. Aber da ist keine Pause. Ich heule, wimmere, schreie und bei all dem merke ich, dass da bereits etwas drückt. 20min, wenn sie normal fährt. Ich muss noch wenigstens 20min schaffen.

Meike kommt. Meike ist da und ich bin so erleichtert. Gnömchens Herztöne klingen prima. Das ist gut. Sie sagt mir, dass ich das gut mache, das tut auch gut. Die Verzweiflung schwindet. Weil ich mich nicht traue, mich nach hinten zu lehnen, versucht sie, den Muttermund im Vierfüßler zu tasten. Er scheint wie bei 8cm.
Acht cm! Nur acht! Da fehlen noch immer zwei – dabei drückt es doch schon! Meine Verzweiflung kehrt zurück.

Wieder eine endlose Wehe, dann weicht dieses Gefühl eines Druckes am Steiß dem unbändigen Willen, zu pressen. Ich kann es nicht mehr ändern- und presse. Irgendwie schaffe ich es vorher, Meikes Vorschlag nachzukommen und mich aufzurichten, ein wenig zurückzulehnen. Ich presse und Meike tastet. Der Muttermund ist vollständig eröffnet. Unser kleiner Astronaut landet.
Und anders als bei Emma weiß ich dieses Mal, dass es nun fast geschafft ist – das gibt mir Kraft.

Drei Presswehen.
Drei Presswehen – eine für den Start, nach der ich dieses wunderschöne Köpfchen zum allerersten Mal in unseren Leben wirklich tasten kann (wie schon bei Emma wollte ich eigentlich in dem Moment voller Pressdrang nicht, hatte aber das Glück, dass Meike sehr wohl wusste, wie sehr ich mich im Anschluss für ein Nein gehasst hätte und mich sanft doch überredete).
Eine für den Kopf mit seinen 36cm Umfang, seinen vielen dunkelbraunen Haaren, seinem wunderschönen Gesicht, der süßen Schnute…
Und eine für den restlichen Körper, bis schließlich proppere 3.840g auf 51cm verteilt, von Meike aufgefangen und in meine Arme gelegt wurden.

Drei Presswehen und alles war vorbei, an einem Samstag, den 24.10.2009 um 15.46 Uhr, das Gnömchen gelandet, für eine kleine Ewigkeit in meinen Armen.
Ein Kuss vom großartigsten aller Männer – nein, zwei – ein „es ist ein Mädchen“ und viele ungläubige, stolze Schluchzer später steht der Name endgültig fest. Freya Lil – die kleine Freya – soll es heißen, unser zweites, geliebtes, winziges Wunder, dessen Nabelschnur Uwe als letzten Akt der Geburt schließlich durchtrennt. Freya ist auf der Welt und nie wieder werden wir sie freiwillig hergeben.

Dreieinhalb Stunden später holt Uwe Emma ab, die erste Nacht des neuen Lebens verbringen wir zu viert in unserem Bett. Freya hat bereits ein ordentliches Organ, aber bis auf mich (wegen der doch nicht so unerheblichen Nachwehen) schlafen am Ende doch alle ziemlich gut. Zwischendurch wird einmal der Krümel wach, guckt ziemlich verdattert, sieht uns andere drei, lächelt tatsächlich und schläft weiter.

„Entbunden werden“ ist nicht dasselbe wie „gebären. Das weiß ich jetzt.

Ich habe unsere erste Tochter in einem Kreißsaal zur Welt gebracht, mit der Hilfe mehrerer Hebammen und Hebammenschülerinnen, einer Kinderärztin, einer Krankenschwester und eines Anästhesisten. Mir wurde die Fruchtblase gesprengt, ich hatte eine PDA die nicht ordentlich nachdosiert wurde und in den Übergangswehen aussetzte, mir aber zumindest zwei bis drei cm zähe Wehenarbeit erheblich erleichterte und einen Wehentropf. Ständig musste ich mich legen oder setzen und wurde an das CTG-Gerät gehängt, das meine Wehen jedoch kaum je ordnungsgemäß aufzeichnete und oft nicht einmal den Krümelpuls fand und somit völlig überflüssig war. Man sagte mir ständig, ich müsse mich bewegen, das ganze müsse schneller gehen und bot mir unablässig Schmerzmittel an. Ich ließ mich leicht von der Ungeduld anstecken, fühlte mich der Geburt und den Wehen ziemlich ausgeliefert, von Ärzten und Hebammen ziemlich abhängig. Ich war maulig und traurig und schlecht gelaunt, weil alles so anders ablief als ich es mir vorgestellt hatte. Ich hatte das Gefühl, mein Körper würde hier einfach versagen, ließ ihm und dem Baby keine Zeit, fühlte mich unfähig. Selbst in der Pressphase befiel man mir, zu pressen. Ich war dankbar dafür, hatte ich die Verantwortung doch längst abgegeben.
In dieser finalen Phase waren da nur mein Mann und zwei Hebammen und der Krümel kam binnen weniger Presswehen ohne weitere Hilfsmittel zur Welt. Es war ein großartiger, schöner Moment. Ich war froh, es geschafft zu haben, froh, im Krankenhaus zu sein, das mir in all den vorangegangenen Stunden ja auch wunderbar dessen scheinbare Unentbehrlichkeit demonstriert hatte und völlig geschafft.
Nachdem sie da war, wurde Emma mir entführt, untersucht und erst eine ganze Weile und eine volle Dröhnung Vitamin K später wiedergebracht. In den Tagen darauf wurde ich im Krankenhaus gut versorgt, fühlte mich sicher aufgehoben, hatte aber ständig fremde Menschen um mich, ob es nun die Bettnachbarin und ihr Besuch oder aber das medizinische Personal der Klinik war, das unablässig den Krümel und mich irgendwie untersuchte. Immer wieder wurde Emma von mir weg irgendwohin gebracht.
Uwe kam uns in den drei Tagen natürlich auch besuchen, so waren wir drei einen großen Teil des Tages vereint. Zusammen in der Fremde.

Unsere zweite Tochter kam daheim zur Welt, in einer Geburtswanne, die in unserem eigenen Wohnzimmer stand. Neben meinem Mann, der auch bei Emmas Geburt dabei war, hatte ich ausschließlich meine Hebamme zur Seite, die mich auch schon in der Schwangerschaft begleitete. Während all der Zeit fühlte ich mich nie ausgeliefert sondern stets souverän – auch wenn ich den größten Teil der Zeit ganz allein mit mir und meinem Bauch war, die Hebamme heim- und den Mann ins Nebenzimmer geschickt hatte.
Mein Körper leistete Wehenarbeit für die ich ihm soviel Zeit gab, wie er nur benötigte, was mir möglich war, weil meine Hebamme sämtliche alte Hektik und Ungeduld mit ihrer ruhigen, zuversichtlichen Art schon im Keim erstickte. Ich fühlte mich die ganze Zeit über geborgen und konzentriert, vertraute mir selbst und entspannte. Durch die Ruhe die dem ganzen innewohnte, verkürzte sich die Eröffnungsphase gegenüber der ersten Geburt um mehrere Stunden. Es war weder PDA noch Wehentropf nötig, weil ich nicht im mindesten verkrampfte. Diese Geburt bewältigte ich ganz allein. Erst kurz vor der Pressphase baten wir Meike, unsere Hebamme, um Wiederkehr und nie hatte ich das Gefühl, der Lage nicht mehr gewachsen oder gar unfähig zu sein.
Als Freya zur Welt kam, war ich völlig im Einklang mit meinem Körper. Ich spürte jede einzelne Übergangswehe als solche, bemerkte, wie ich mich öffnete und sich ihr Köpfchen immer tiefer schob. ich entschied selbst, wann ich mit dem Pressen beginnen und welche Position ich dafür einnehmen wollte. Meike stand mir mit all ihrer Erfahrung zwar fest zur Seite, beschränkte sich aber auf wenige Vorschläge zur Erleichterung der Geburt. Nie gab es Befehle, nie wurde mir die Entscheidungsgewalt über mich, meinen Körper, mein Kind in irgendeiner Form abgenommen. Nie gab ich die Verantwortung ab und als ich Freya schließlich im Arm halten konnte, fühlte ich mich nicht nur unendlich glücklich – sondern auch unendlich stolz. Ich platzte vor Euphorie und Tatendrang – am Liebsten hätte ich Uwe und Meike noch beim Saubermachen geholfen.
Freya wurde direkt neben mir, in Decken gehüllt, untersucht. Bis heute – sieben Wochen nach ihrer Geburt – habe ich sie nie abgeben, nie mit fremden Menschen allein lassen müssen. Sie wurde nie mit überflüssiger Untersucherei gequält, bei der Fersenblutabnahme – die auch Meike durchführte – hielt ich sie in meinen Armen, selbst Vitamin K bekommt sie in wesentlich niedrigerer Dosierung über mehrere Wochen anstelle von zwei „Dröhnungen“ in Krankenhaus und Arztpraxis.
Und all die Zeit über waren wir hier, daheim, als Familie vereint. Uwe war nie bei uns „zu Besuch“, er und Emma waren von Anfang an ein Teil „unserer Blase“.

Beide Geburten für sich genommen waren einzigartige, große Ereignisse. Aber erst seit der zweiten – der Hausgeburt – weiß ich, was es heißt, ganz natürlich, wie schon so viele tausend Frauen vor mir, zu gebären und nicht „entbunden zu werden“. Man muss eine Frau nicht „von ihrem Kind entbinden“.

Anne

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