Pauline – Die väterliche Sicht

Man kann (wieder einmal) gar nicht genau sagen, wann die Geburt begonnen hat. Natürlich gab es den Moment in dem klar war „heute wird das Kind kommen“, aber es gab auch wie bei unserem Sohn eine Phase, in der meine Frau ganz tief in sich bereits angefangen hat die Geburt vorzubereiten ohne jedoch eindeutige Signale dafür wahrzunehmen.

Bereits an den Wochenenden zuvor hatten wir die Kinder ausquartiert, um der Geburt Raum und Zeit zu geben. Aber nichts passierte. Also, es schwelte schon, indem es hier und da mal Wehen für einige Stunden gab, aber die Wehen verabschiedeten sich schon, wenn meine Frau sich auf die andere Seite umdrehte. So gab es mindestens vier oder fünf Nächte, in denen ich um 21 Uhr ins Bett ging und ganz aufgeregt war, weil ich sicher war, dass es heute Nacht beginnen würde. Aber das durfte ich natürlich meiner Frau weder am Abend selbst sagen, noch am nächsten Morgen offensichtlich überrascht sein. Aber ich war es. Ich wachte an folgenden Morgen um 6 Uhr durch meinen Wecker auf und fühlte so ein „ach schade, es wäre echt passend gewesen“. Einfach weil die Kinder nicht da waren, weil sogar einmal das Sofa für die Geburt vorbereitet war und weil wir innerlich einfach bereit waren. Ja, sogar etwas über „bereit“ hinaus.

Aber dann war es plötzlich klar: Meine Frau weckte mich um 5:45 Uhr, um mir zu sagen, dass sie leichte Wehen habe und ich nicht nach Hamburg fahren solle. Ich sollte weiterschlafen und dann die Kinder wie gewohnt in den Kindergarten bringen. Ich wollte aufstehen und anfangen alles vorzubereiten, um nicht wieder wie beim letzten Mal völlig überrascht zu sein aber gleichzeitig ist mit ihr in dieser Situationen lieber nicht zu diskutieren. Folgend saßen wir um kurz nach sieben beim Frühstück, das deutlich straffer ausfiel als sonst. Meine Frau wollte ins Bad gehen. Ein paar Minuten später kam sie aber wieder, sie hatte gerade mit Miriam telefoniert und änderte den Plan. „Ihr werdet jetzt abgeholt. Kein Kindergarten denn wir bekommen heute vielleicht ein Baby.“ Unser Sohn verstand nicht ganz was gesagt wurde aber unsere Tochter geriet in Aufregung: „Echt? Echt? Echt? Wir bekommen jetzt das Baby??? Ohhhh wow!“ Nun war es auch bei mir fort mit der Ruhe und ich starrte auf die Straße und konnte nicht verstehen, dass die Oma 2 Minuten nach dem Aufruf jetzt die Kinder zu holen immer noch nicht vorgefahren sein könnte. Ich rief also ihren Mann auf dem Handy an, sie auf dem Handy an, zuhause bei ihr an und sagte unserer Tochter es sei keine Zeit mehr aufs Klo zu gehen, nur um sie 30 Sekunden später doch auf den Pott zu setzen: „Aber mach schnell! Nein – die Jacke kannst du dabei anlassen.“ Oma fährt vor – Zack – Kinder rein ins Auto – Kein Kindersitz – Egal – Kuss – Tschüß – Jaja Danke.

Super, Kinder weg – jetzt schnell alles vorbereiten. Dreimal im Kreis laufen, Ofen zum Vorheizen der Handtücher aus Versehen auf 200 Grad gestellt und nicht gewünschte 50 Grad, um sofort von meiner Frau zur Ruhe und Kontrolle ermahnt zu werden. Aber kein Problem. Für diesen Fall hatte sie ja vorgesorgt: Es gab eine sehr ausführliche Checkliste, die ich jetzt schnell holte. Es gab drei Ausdrucke davon, ich entschied mich, nicht die in der Schublade neben mir zu nehmen, sondern in das Arbeitszimmer zu laufen. Instinktiv, weil Bewegung bekanntlich hilft Adrenalin abzubauen. Die Checkliste im Arbeitszimmer habe ich an jedem der 4 bis 5 „heute Nacht geht’s bestimmt los“ Abende und an einigen weiteren gelesen und sie war auf orangefarbenem Papier gedruckt, was die Dramatik der Situation nicht besser hätte hervorheben können. Die Liste sagte, dass ein Hausschlüssel in den Briefkasten geworfen werden soll: Check. Die Hebamme klingelte zwar 15 Minuten später und raunte, dass der Schlüssel doch stecken sollte, denn sie hatte vergessen, dass abgemacht war ihn in den Briefkasten zu legen, aber egal, ich arbeitete stoisch die Liste ab. „Bitte nicht stören“ Schild raushängen (check) und das Telefon in die Ladestation stellen (check) aber lautlos (check). Zum Glück habe ich auch das pflichtbewusst erledigt, sonst hätten wir exakt zur Geburtsminute (9:46 Uhr) die Oma in der Leitung gehabt, die einen siebten Sinn beweisen wollte. Der Backofen war schon an (check) 50 Grad (check, jetzt hätte ich es auch bemerkt), Kachelofen einheizen (check), Sofa beziehen (check), Bett beziehen (check), Geburtskisten ins Wohnzimmer bringen (check), Wasser aufkochen (check), Kerzen nicht erwünscht da taghell, aber abgefragt (check) und Musik ist auch nicht erwünscht, aber abgefragt (check). Es läuft gut, denn die Liste naht sich dem Ende und ist natürlich in absteigender Priorität geschrieben worden. Die Hebamme ist jetzt eingetroffen und wir sind stolz das alles vorbereitet ist. Während sie ihre Taschen auspackte und sich selber vorbereitete, kochte ich Tee. Ich sah wie die Hebamme auch die Sachen vorbereitete, die wir hoffentlich nicht gebrauchen würden wie z.B. eine Beatmungsmaske für Neugeborene. Nicht sofort in der Sekunde aber in den Stunden und Tagen danach wird mir bewusst wie furchtbar die Situation doch für die Hebamme bei der rasanten Geburt unseres Sohnes gewesen sein muss. Es war wirklich nichts vorbereitet und eine Komplikation hätte sie kalt erwischt.

Meine Frau wollte jetzt etwas Ruhe haben. Sie wollte alleine durch die Schlafzimmer spazieren und ihren Rhythmus finden. Unsere Hebamme fand das nicht so toll, aber ich vergewisserte ihr, dass dies förderlich sei und meine Frau sich gewiss melden würde, wenn sie Hilfe brauche. Ich konnte nichts mehr vorbereiten und entschied mich, kurz zwei, drei Emails zu schreiben, in denen ich meine zwei Wochen Urlaub ankündigte und letzte Aufgaben an Kollegen übergab. Das sollte mir helfen den Kopf in den nächsten Tagen frei zu haben. Zwischen zwei dieser Emails hatte meine Frau, die nun wieder im Wohnzimmer war, eine Wehe die ich gemeinsam mit ihr veratmete. Da zwischen den Wehen nur 2-3 Minuten lagen war klar, dass es keine Zeit mehr für Emails gibt, sondern meine Frau meine Aufmerksamkeit braucht und auch annimmt. Laptop aus. Schnell wieder zu ihr, um wahrzunehmen, dass die Wehen nun echt sehr anstrengend sind. Meine Frau litt unter den starken Schmerzen und ich massierte ihren Rücken. Die Hebammen, inzwischen waren beide da, deuteten die Situation als Zeichen für Übergangswehen. Ich war überrascht, dass es schon so weit ist. Übergangswehen sind mir von der ersten Geburt als wirklich sehr sehr nahe an der Grenze des Machbaren in Erinnerung geblieben und das Wort „Übergangswehen“ allein erhöhte meinen Puls. Die Hebamme forderte meine Frau auf sich auszuziehen, was diese aber als zu früh und unnötig erwiderte. Trotzdem folgte sie ihrem wiederholten Wunsch. Es gab einige Versuche eine gute Position für meine Frau zu finden, aber nach kurzer Zeit kniete sie vor dem Sofa und ich setzte mich auf das Sofa vor sie. In exakt der gleichen Position haben wir die anderen Beiden bekommen. Jetzt folgten für meine Frau weitere schmerzhafte Übergangswehen. Ich konzentrierte mich auf meine Aufgaben und half ihr so gut ich konnte. Ich erinnerte sie an die Wichtigkeit zwischen zwei Wehen zu entspannen, um Kraft für die nächste zu tanken und malte das gedankliche Bild von einer Bergbesteigung und beschrieb, dass wir jetzt den Wald verlassen haben und im Geröll sind – was immer ein klares Zeichen für eine baldige Gipfelbesteigung ist. Ich massierte ihren Nacken und atmete. Ich achtete drauf, dass sie nicht verkrampfte aber ganz ehrlich: Schon bei der nächsten Wehe und den krassen Schmerzen wurde ich mir der Geringfügigkeit meiner Bemühungen bewusst. Ganz wichtig war für mich zu sehen wie die Hebamme regelmäßig mit dem Dopton die Herzfrequenz maß. Alle Werte waren immer im grünen Bereich mit einem Puls zwischen 140 und 150 und ich war mir der hohen Bedeutung dessen sehr bewusst. Die Geburt verlief gut, das konnte man zwar nicht an dem Gesicht meiner Frau ablesen, aber wohl an dem der zweiten Hebamme, die sich in nächster Entfernung mit bestem Blick auf das Geschehen positioniert hatte und jetzt fast jede Minute dokumentierte. Die Schmerzen meiner Frau stiegen jedoch ins unermessliche und ihr war es wichtig mir zu sagen, dass ich mich um die Kinder kümmern sollte, wenn sie jetzt stirbt. Unfassbar was eine Frau – meine Frau! – bei einer Geburt durchmacht.
Die Wehen kamen nun zeitlich wieder etwas weiter auseinander und die Schmerzen änderten sich. Es drückte jetzt und das Köpfen bahnte sich seinen Weg. Fruchtwasser und Blut ebenfalls. Die Hebamme war nicht mehr entspannt, suchte gelegentlich einen bestätigenden Blick bei der Kollegin und erinnerte meine Frau trotzdem an ihre eigenen Kräfte und den Mut alles, was jetzt komme, geschehen zu lassen. Das Köpfchen wurde geboren und die Hebammen waren beide sichtlich unentspannt. Später berichteten sie, dass Paulines Hand am Hals lang und dadurch die Schulter in einem ungünstigen Winkel stand. Zwei weitere Wehen waren notwendig, um Pauline zur Welt zu bringen und die zweite Hebamme kommentierte die Szene mit einem leisen „aber da ist auch viel Fruchtwasser dabei“. Der Blutverlust war offensichtlich ebenfalls ein Grund zur angestrengten Aufmerksamkeit geworden, aber jedoch nicht so kritisch wie kurz befürchtet. Pauline lag zwischen den Knien meiner Frau und meine Frau starrte sie an. Nichts passierte für unendliche Sekunden. Dann nahm sie Pauline in den Arm und die Hebamme, immer noch in Sorge um eventuell kritisch blutende Verletzungen, wies sie an sich hinzulegen. Puh. Meine Frau lag nun mit Pauline im Arm und ich machte ein paar Fotos. Holte Handtücher. Kniete mich daneben. Machte noch ein Foto und schaute Pauline an. Wahnsinn. Unglaublich. Völliges Gefühlschaos. Erleichterung. Freude. EIN MÄDCHEN! Keine Zeit für Ruhe. Ich sollte mein Hemd ausziehen und Pauline auf den Arm nehmen, während meine Frau untersucht wurde. Es gab schon deutliche Verletzungen, jedoch keinen kritischen Blutverlust. Dennoch lag noch immer eine hohe Anspannung in der Luft. Die Plazenta sollte nun möglichst geboren werden, aber meine Frau hatte wohl kaum Wehen. Die Hebamme zog an der Nabelschnur was echt komisch aussah. Ich versuchte meinen Blick abzuwenden. Pauline lag schließlich in meinen Armen und bot ein unvergleichliches Bild. Es ist einfach so unfassbar einmalig ein Neugeborenes in dem Armen zu halten. So verletzlich und fragil ist das Leben zu Anfang – es gleicht einem Wunder, dass sich hieraus in wenigen Wochen und Monaten ein gesundes Kind entwickelt, das bald durch unser Haus krabbelt.

Nach einigen sehr schwachen Wehen wurde die Plazenta geboren. Die Nachgeburt ist mir sehr befremdlich und auch die Bewunderungen für Größe und Schönheit der Plazenta durch die Hebammen änderten bei dieser Geburt meine Sichtweise nicht. Meine Frau hatte wahrlich bereits genug Schmerzen erlitten, aber um das Nähen der Geburtsverletzungen kam sie nicht herum. Es wurde sehr kompliziert vorbereitet und das Nähen selbst dauerte fast 40 Minuten. Unfassbar lange, aber wohl auch gründlich und fachlich sehr professionell. Ich hielt Pauline auf dem Arm und übte mich in beruhigendem Brummen und niedlichem Zusprechen. Irgendwann war es geschafft und alle waren froh drum. Jedoch standen noch weitere Pflichten für meine Frau auf dem Plan (Toilette, Duschen, etc.), bevor wir endlich im Bett lagen und etwas Zeit zu dritt hatten. Meine Frau versuchte Pauline zu stillen und wir besprachen den Namen. Die U1 stand noch an, sowie erste Stillberatungen und die Kinder sollten nach Hause kommen. Ich räumte noch das Wohnzimmer auf, damit es für die Kindern nicht zu befremdlich wirkte und holte sie ab. Die Beiden begegneten Pauline mit sehr viel Erstaunen, Begeisterung und zärtlichen Liebkosungen. Wir riefen gemeinsam die nächste Familie an, um Allen die frohe Botschaft zu verkünden und alle freuten sich sehr. Es wurde nun sehr schnell Abend und wir waren alle sehr müde – was für ein Tag!

WordPress Cookie Plugin von Real Cookie Banner