Was wird aus uns Menschen, wenn wir uns das Gebären nicht mehr zutrauen?

Ich lehne mit den Armen auf der Fensterbank des kleinen Badezimmers. Mein Blick schweift zu den Kühen, die an diesem grauen, kalten Winternachmittag auf dem Stroh in ihrem Unterstand liegen. Ich könnte mich an ihre runden Bäuche schmiegen. Das Gefühl trägt mich durch die nächste Wehe.

Das »Oohhhohhh« begleitet jetzt mein Ausatmen bei jeder Welle. Welch ein Geburtsort. Ich gebäre mein zweites Kind in dem abgeschirmten Teil des Hauses einer guten Freundin und Nachbarin in unserem Dorf. In ihren Räumen bin ich aufgehoben und geschützt.

Den Vormittag hatte ich wehend noch allein Zuhause verbracht, mein Mann um die Ecke tätig, jederzeit bereit zu mir zu kommen. Ich beobachtete ruhig und fast genüsslich das Ziehen und Wirbeln in meinem großen Bauch, folgte meinem Gefühl, fand meinen Rhythmus passend zu den Wellen. Ich staune über meine Leichtigkeit und Freude auf das Menschen-Wesen, das sich nun seinen Weg heraus aus meinem Körper bahnt.

Dann werden die Wehen stärker, mein Mann und ich machen uns auf den Weg. Bald trifft auch die Hebamme ein, wir verspeisen ein leckeres Mahl. Für einige Wehen hält mich das Tuch, das wir aufgehängt haben, als wir den Geburtsort einrichteten. Es ist ein Willkommensgruß, der Ortswechsel nimmt kaum Einfluss auf die Wehen. Bald bin ich dankbar, mich um die Schultern meines Mannes schlingen zu können. Wir sind Einheit, ich lasse mich an ihm fallen. Ich höre ein »Jaaaa«, das jemand zu mir spricht. Es erinnert mich: Ja, ich möchte dieses Kind gebären. Ich bin es, die das tut. Die Hebamme bestätigt: Der Muttermund ist schon weit, alles ist weich, da ist viel Platz. Ich bin im Fluss. Ich spüre den Weg, den sich das Kind bahnt. Immer wieder gleitet mein Blick aus dem Fenster. An der grünen, rauen Rinde der Kastanie klettert ein Kleiber kopfüber den Stamm entlang. Sein spitzer Schnabel und sein blaues Gefieder zeichnen sich deutlich ab. Aber nicht jede Wehenpause ist Kino. Ich langweile mich auf eine Weise, die angenehm ist und mich zu gleich ein bisschen ungeduldig macht. Doch sind es diese Pausen, die mich bei Kräften bleiben lassen. Bislang hatte ich mich selbst in die passenden Positionen gefunden. Es wird anstrengender, jetzt ist jede Wehe Arbeit. Die Hebamme schlägt einen Positionswechsel vor. Ich bin dankbar für ihre Erfahrung. Voller Kraft töne ich, ich spüre das Köpfchen, wie es ins Becken stößt und dann zurück in die Gebärmutter gleitet, einmal, zweimal, vor und zurück. Ich gebe allem Druck nach, nutze den ganzen Raum meiner Lungen. Ich suche mit den Händen Halt, finde ihn in denen meines Mannes. Dann zwängt sich das Kindchen aus mir heraus. Da ist es, das war‘s. Was? Das ist es schon gewesen? Ich staune, bin überwältigt.

Ich wende mich aus meiner Gebärhaltung auf das Sofa gestützt meinem Kinde zu, das da liegt. Sehe es von den Hebammen umsorgt. Im nächsten Moment liege ich auf dem Sofa, das Kind wird mir auf die nackte Brust gereicht. Da liegen wir beide. Mein Kind und ich, seine Mutter. Das Glück ist so weit und überall.

Einige Stunden später fahren wir die wenigen hundert Meter zu unserem eigenen Zuhause, dort wartet unsere schlafende Tochter auf uns. Noch in der Nacht wacht sie auf und begrüßt ihre kleine Schwester. Wir verbringen die erste Nacht zu viert. Überall ist Zauber.

Aus der Perspektive als Wöchnerin empfinde ich diese Geburt als große Stärkung. Ich fühle mich mir selbst nahe, bin bei mir, meine Gedanken und Bedürfnisse sind klar. Ich bin dankbar in vielerlei Hinsicht. Dankbar, ein gesundes und kräftiges Kind geboren zu haben, das ich nun durch einen beachtlichen Teil seines Lebens begleiten darf. Dankbar für die beiden Hebammen, die mich haben machen lassen und zugleich in den entscheidenden Momenten präsent waren. Sie waren es, die diesen kurzen und natürlichen Verlauf der Geburt ermöglicht haben. Es schaudert mich zu wissen, wie wenig Raum es in dieser Welt nur noch gibt für das natürliche Gebären, wie es immer mehr zu einem klinischen und kontrollierten Vorgang deklariert wird statt es als das anzuerkennen was es ist: ein Akt im Kreislauf alles Lebendigen. Was wird aus uns Menschen, wenn wir uns das Gebären nicht mehr zutrauen?
Dankbar für den Geburtsort, an den uns unsere Freundin einlud, und der sich als vollkommen und stimmig für uns zeigte. Die Einladung ist für mich Ausdruck unseres dörflichen Zusammenlebens, in dem sich in wenigen Jahren viel Zusammenhalt entfaltet hat. Aus Unbekannten sind enge Vertraute geworden, die ein tägliches Miteinander pflegen und durch die unmittelbare räumliche Nähe zwei sonst immer weniger werdenden Güter aufleben lassen: In einem Buch las ich kurz vor der Geburt meiner Tochter von der Erkenntnis eines indigenen Volkes. Demnach sei das Teilen ein wesentliches Anliegen der Menschen und auch das gemeinsame Vereinbaren und Aushandeln des Zusammenlebens. Beides tritt in unserem Dorfleben immer deutlicher hervor und zeigt eine schöne und gesunde Art und Weise des Zusammenlebens.
Dankbar dafür, mich voll auf meinen Mann stützen zu können und uns im grundsätzlichen und tiefen Gleichgewicht miteinander zu erleben. Eine turbulente Zeit, die hinter uns liegt, hat dem nicht geschadet, sondern uns ganz offenbar näher zusammengeführt denn je. Das ist eine ganz wunderbare Basis für die kommende Zeit als Paar, als Familie, als Begleiter unseres Lebens.
Dankbar bin ich auch für mich selbst. Ich freue mich, eine wahrhaft selbstbestimmte Geburt erlebt haben zu dürfen. Ich habe mir selbst vertraut, mir die Geburt selbst zugetraut. Das war auch viel Arbeit, an mir selbst, an meinen Ängsten. Loslassen, sich einlassen, mich hingeben, Vertrauen schenken, So-sein wie ich bin, all das forderte mich. Ich habe während dieser Geburt keinen Unterschied zwischen mir und der Natur gespürt. Ich habe mich selbst als Natur erlebt. Ich bin Natur.

Möge in dieser Welt das Gebären wieder zu einem Teil unseres Mensch-Seins werden.

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